Wie die Bälle magisch wurden.

Die Entstehungsgeschichte.

Die Geschichte dieses Projekts ließe sich schildern wie die Odyssee des Dichters Homer. Sie ist zwar nicht ganz so dramatisch verlaufen, die lange Suche des Fotografen Jens Heilmann, doch auch er hat von seinen Reisen wunderbare Geschenke mit nach Hause gebracht: Bälle, die schweben – und leuchten wie Monde in tintenschwarzer Nacht. Am Anfang war eine kleine Idee: ein MEMO-Spiel zu machen, Spielkarten mit Fußbällen darauf. Jens Heilmann ist weniger Fußballfan und viel mehr Künstler. Er ist Fotograf und denkt in Serien von Bildern und in gestalterischen Konzepten. Doch was ihn plötzlich interessierte, in jenem April des Jahres 2007, bei einer Autofahrt nach München, waren Fragen wie: Hatten die Fußbälle der vergangenen Jahrzehnte eigentlich stets dasselbe Design? Unterschiedliche Farben? Wurden sie je aus einer Hand fotografiert? Er konnte sich nicht erinnern. Und wurde neugierig. Wäre denn, ging ihm durch den Kopf, eine Reihung der immergleichen grafischen Form nicht eine faszinierende Sache? Erste Recherchen nach Bällen im Internet zeigten nur miserabel Fotografiertes. Vor allem fanden sich nur wenige Informationen zu den Originalen. Ganz offenbar interessierte sich die Welt beim Fußball lediglich für Tore und Fallrückzieher, für gehaltene Elfmeter und brutale Fouls, für Siegerposen und gestrauchelte Favoriten. Pelé und Beckham, Beckenbauer und Valdano, Rossi und Puskás – sie stehen im Fokus der Fußballalben und Bildergalerien. Nur dieses formschöne Spielgerät, um das sie alle mit Leidenschaft kämpfen, das die Spieler mal liebkosen und mal zornig in den Himmel dreschen – es wird einfach ignoriert.

Es war dann reiner Zufall, wie Heilmann den ersten Ball entdeckte. Seinen Testballon. In einer Werkstatt für Gartengeräte sah er diese Kugel mit Werbeaufdruck und fragte, ob er sie mal ausleihen könne. Er bekam sie geschenkt. Heilmann experimentierte in seinem Studio. Seine Fußbälle sollten magisch wirken. Keine harten Ränder. Keine dominanten Spiegelungen, keine Schattenseite. Er wusste, die Bälle würden unterschiedlich glänzende Oberflächen haben. Und der Hintergrund? Weiß steht schlecht auf Weiß. Farbe wirkt zu aufdringlich. Also: Schwarz. Fotografisch würde er das irgendwie schaffen. Logisch, dass die erste Tour zu Adidas führte. Herzogenaurach, nicht allzu weit von München. Seit Ewigkeiten schon versorgt diese Firma die ganze Welt mit Fußbällen. Heilmann fuhr weiter nach Frankfurt am Main, zur Zentrale des Deutschen Fußball Bundes. Hier wird der Ball des Finales von 1954 in einem Tresor verwahrt. Noch ein Foto. Wie leicht alles ging. Und wie faszinierend die ersten Bilder aussahen! Heilmann sah neue Perspektiven: ein exklusives Buch, Ausstellungen. Es war Sommer 2007 und der Fotograf war voll des Glücks, er wähnte sich bereits kurz vor dem Ziel. Ein großer Irrtum, wie sich zeigen sollte. Jens Heilmann reiste nach Preston, England, um Bälle der Weltmeisterschaften 1930 und 1966 abzulichten. Er schrieb Verbände an, Firmen, Museen, immer auf der Suche nach originalen Bällen, mit denen bei Weltmeisterschaften gekickt worden war. Er schickte E-Mails rund um den Globus. Er bat um Genehmigungen, fotografieren zu dürfen, fragte nach Wegen, die ein Ball genommen haben könnte. Alles, was in der Kunst so leicht aussieht, ist Resultat mühsamer Plackerei und endloser

Feinarbeit. Frag die Primaballerina, frag den Reckturner, frag den Bildhauer. Heilmann lernte vor allem: zu warten. Zu ertragen, wenn keine Antworten kamen. Nicht zu verzagen, wenn er auf falsche Fährten geschickt wurde. Es konnte Monate dauern, bis ein einziges Foto zustande kam. So wie im Januar 2008, als er nach Florenz fuhr, ins Museo del Calcio. Wie immer war er mit fünf Aluminiumkisten an Equipment losgezogen, Kamera, Stative, Blitzgeneratoren, Lampen, Filmkassetten... Es geht nicht ohne diese hundert Kilogramm an Gepäck. Doch danach hatte er die Bälle 1934, ’38 und ’62 auf seinen Planfilmen, 10 x 13 Zentimeter.

Es wurde klar, dieses einzigartige Projekt benötigte Seriosität: Die Geschichte jedes Balls sollte einwandfrei dokumentiert werden, es dürfte sich nur um Bälle handeln, die bei Weltmeisterschaften benutzt worden waren. An der Echtheit des bei Adidas fotografierten 1950er-Balls bestanden Zweifel. Die Fifa schwieg. Ballhersteller konnten nicht helfen. Bei jeder Fußball-WM kamen ja Dutzende von Bällen zum Einsatz, inzwischen sind es 15 bei jedem Spiel; mit welchem davon wurde wirklich gespielt und welcher davon lag bei einem Finale im Tor? Heilmann flog in die USA, reiste nach Oneonta, New York. Nach dem Besuch der National Soccer Hall war ein weiterer Ball im Kasten: der einzig verlässlich dokumentierte von 1950. Der Blick auf Jens Heilmanns Bilder ist wie ein Gang durch ein archäologisches Museum. Wie ein Ausgräber hat der Fotograf Schicht um Schicht der Historie des Fußballs freigelegt. Sichtbar wird eine Entwicklung von achtzig Jahren, von technischer Innovation, von Design. Und wer Fußball liebt, den wird jeder dieser Bälle in neue Traum-welten entführen. Die Geschichte der Menschen, so meinte Karl Marx, ist eine Geschichte von Klassenkämpfen. Und die Geschichte des Fußballs, so könnte man ihn ironisieren, ist mehr als eine Geschichte von Zweikämpfen. War nicht auch jedes Mal ein Ball dabei? Dieser ist ja viel mehr als Leder und Plastik. Warum sonst sollte Diego Maradona sagen: „Der Ball ist für mich Mutter und Geliebte zugleich.“

Jens Heilmann zeigte mir in seinem Studio, wie er seine magischen Effekte erzielt. Er formt einen Zylinder aus milchiger Folie, etwa sechzig Zentimeter hoch, die untere Hälfte ist mit schwarzem Filz ausgeschlagen. Der Zylinder steht auf schwarzem Grund, darauf ein Ball. Mit der Höhe des Zylinders lassen sich die Spiegelungen regulieren. Aus vier Richtungen wird nun seitlich auf den milchigen Teil der Folie geblitzt, dies sorgt für die samtweiche Kante auf den Fotos. Und von oben fotografiert Heilmann mit einer „Linhof Master Technika“, voluminös wie ein Schuhkarton, eine Großformatkamera. Stets drei Belichtungen pro Ball, Blenden 22, 32 und 45.

Es könnte nun klingen, als käme die Sache langsam zu einem Ende. Irrtum. Sie fängt nun erst richtig an. Im Oktober 2009 hörte der Fotograf einen Namen, der entscheidend werden sollte: René Sopp. Ein anerkannter Sammler von Fußballdevotionalien, Wohnsitz Leipzig, weltweit vernetzt mit anderen Fachleuten. Aus Sopps Kollektion stammen die Bälle von 1990, 2002 und 2006. Der Sammler Roger Saur zeigte sich konziliant und schickte per Luftfracht die Bälle von 1994 und 1998 aus New York City, USA. Auf der Rückreise wären diese Kostbarkeiten um ein Haar verloren gegangen. An Weihnachten flog Heilmann zu Francisco Aquino nach Guadalajara an die Pazifikküste Mexikos und fotografierte dort einen Ball von 1970, den weltweit einzig dokumentierten. Aquino hatte diesen auf keinen Fall nach Deutschland schicken wollen, nicht einmal als Kunsttransport: Es sei sein größter Schatz. Ein Hinweis führte zu Erich Linemayr nach Linz, einem österreichischen Schiedsrichter: 1974 und 1978 konnten abgehakt werden. Das Sportmuseum Schweiz in Basel war hilfsbereit: einen weiteren von ’54, dazu ’62 und ’66. Für den 82er-Ball gab es plötzlich eine neue Spur: Vor drei Jahren war von einem deutschen Verlag ein Ball von 1930 versteigert worden, an ein Museum in Spanien. Die Weltmeisterschaft 1982 fand in Spanien statt. Könnte also dort..? Doch die Spur verlor sich, ein gespiel-ter 82er war erst einmal nicht zu finden. Einen Originalball steuerte dann Dino Maas bei, ein Sammler aus Moers; er konnte auch mit den Bällen von 1986 und 2006 helfen. In Stockholm galt es nun noch Bengt Ågren zu treffen, den letzten lebenden Zeugen, der dabei war, als der WM-Ball 1958 aus 102 verschiedenen Bällen ausgesucht wurde...

Norbert Thomma